Aus: Der Deutschen liebste Dichter, Band I: Johann Wolfgang von Goethe,
ausgewählt, gesammelt und geordnet v. Dr. phil. Clemens Maria Faulhaber, Franckfurt 1926
I.
„Der wahre Mensch, im Zaume der Natur,
Erwehret sich des Triebs Kandare nur
Durch hohe Kunst und seiner Sinne Geist,
Auf welchem Wege ihn Apollon weist.“ –
So spricht der Weise, und zugleich der Thor,
Vergißet er doch, wer die Kunst beschwor,
Daß aller Dinge wohlgestalter Schein
Sich erst erhebt aus ihrem rohen Sein,
So mag der Denker viele Worte finden,
Die doch im Tatendrang der Ahnen gründen,
Denn alles Neue sucht im alten Spiele
Sein Glück allein im Walten der Gefühle!
II.
O Schiffer, o Vater, o Meister
Der tosenden Herzensflut,
So schick‘ mir die himmlischen Geister
Zu adeln mein brünstiges Blut! –
Ein süßer Hauch von ihrem Munde,
Wenn sie ihn öffnet, lispelnd spricht,
Führt mich zu aller Dinge Grunde,
Verhüllend Kronos‘ Angesicht!
Sie lächelt mir, die Liebste! die Erwählte!
Aus schönsten Seelensternen in mein Herz,
Wie wenn sie stille mir die Welt erzählte,
Mich zu sich zöge hoch und himmelwärts,
Wie einst Prometheus uns das Feuer brachte,
Entfachte sie in mir die Glut der Triebe;
Der Nymphe gleich, die über Amor wachte,
Vollführte sie an mir das Werck der Liebe!
III.
Wie Schranken erst zur Freiheit führen
Und Nacht ins Licht der Sonne,
Sieht man sich wechelseitig schüren
Der Liebe Weh und Wonne.
Wie Reifen, Blühen, Welken uns‘re Losung,
Wie nur der Wandel uns auf immer eint,
So reift und blüht und welkt auch die Liebkosung,
Die doch für eine Weile ewig scheint.
IV.
In jenen Stunden heiligster Gefühle
Entspann der Götter Gabe ihre Pracht –
Doch ach! schon bald erlosch in spröder Kühle
Die heiße Flamme meiner Liebesmacht,
Der Muse Busen, ihres Schoßes Gunst,
So wie sie mir, dem Liebenden, geweiht,
Beschenkten eines andern Buhlers Brunst,
Vor meiner Liebe Drang fortan gefeit –
V.
O weh, Gespielin meiner Lust!
Du wilde Wonne meiner Brust!
In deinen Äther locktest mich –
Und gabst mir jäh den Todesstich!
Noch brannte mir in tiefster Wunde
Ein Kuß von deinem süßen Munde
Voll Sehnsucht auf den Jünglingslippen –
Noch stand ich an den steilen Klippen,
Hinunterspähend in die Wogen,
Die lockend mich ins Tiefe zogen,
Den Meeresbusen hoben, senkten,
Sirenengleich mir Blicke schenkten,
Noch kühn und stolz in meiner Klage,
Bereit zum Opfer meiner Tage
Sank ich in Philomenens Schoß,
Zu dulden still der Parzen Los! –
Doch ward es nicht Fortunas Drang,
Daß ich mich in die Tiefen schwang –
Besinnend mich trotz Liebesweh‘n
Schwor ich auf‘s Werden statt Vergeh’n,
So kehrt‘ ich ab vom blinden Schmerz
Und warf mein Antlitz himmelwärts,
Wo Helios hell strahlend grüßte
Und mich entriß der Seelenwüste!
VI.
Am Morgen, als ich erwachte,
War weit meine Brust und frei,
Darinnen frohlockte und lachte
Die Herzensmelodei!
Das Tränennaß der Klagen
Schien lang getrocknet schon,
Vom Zephyr fortgetragen
Der Liebe Januslohn.
Vom Leben beschenkt und geschulet
Schritt froh ich durch Flur und Wald,
Wo Blum um Blümlein sich buhlet,
Der Vögelein Sang erschallt, –
Frank und frei nach neuem Ort
Im Sinn noch Liebessüße
Zieht‘s mich frischen Muthes fort
In Ahnung neuer Küße!
VII.
Heut‘ bin ich reicher an Jahren,
An Weisheit, die ich mir erstritt,
Gedenk‘ der Gewinne, Gefahren
Des Jünglings, der liebte und litt,
Der Liebe Lust und Wonnen
Sind reifer und tiefer denn je,
Doch weniger kühn als besonnen
Kreuzt nunmehr mein Schiff die See.
Der Freuden trat auch eine neue
In meine Tage hinein –
Und jene hält ewig mir Treue,
Soll fortan die liebste mir sein:
– O uralte Rebe!
O reifender Fülle Frucht!
Entrinnest dem Kelch in die Kehle,
Vollendest den Strom der Seele
In dionysischer Bucht!
Anmerkung des Herausgebers
In seiner Ballade An den Liebenden, die bis dato unentdeckt im Weimaraner Nachlass Johann Wolfgang von Goethes in tiefem Dornröschenschlafe gelegen, richtet der unvergleichliche Geistesschöpfer und Kapellmeister der deutschen Zunge einen großväterlichem Fingerzeig an den erstgeborenen Enkel Walther Wolfgang von Goethe, um dem zum Manne reifenden Knaben von dreizehn Jahren im betörenden Gewande der Poesie solch lehrreiche Erfahrungen auf dem Felde des Eros zu entdecken, wie sie nur die erfüllte Vita des Künstlers und besonders auch des Menschen von Goethe hervorbringen konnte, welcher, wie vielfach überliefert ist, im langen Reigen seiner Tage stets frei aller Kostverächtung geblieben war.
In vorliegender Ballade, welche des Dichters Feder im Frühjahr 1831, ein knappes Jahr vor seinem Tode, entfloß, sehen wir viele wiederkehrende Motive des Goethe’schen Alterswerkes auf meisterliche Weise in die berückenden Verse eines einzigen Poems gebannt. Mag auch des Dichterfürsten kunstvolles Spiel mit wechselnden Reimformen, Metren und Kadenzen auf den ersten Blick sein höheres Wesen noch nicht offenbaren, so ist doch jener Leser mit Sinn für die lyrische Empfindung und den lyrischen Ausdruck allzeit imstande, nach wiederholtem Genuße der Lektüre die ihr innewohnende Autorität des Stils zu ermessen, mit welcher von Goethe dem ohnehin schon eindrücklichen Handlungsinhalt seiner Ballade eine noch höhere und zugleich noch tiefere Dimension der Bedeutung zur Seite gestellt hat.
In sieben Teilen – man bedenke die besondere Symbolkraft jener Zahl – geleitet der Dichter den Liebenden, an den er seine Worte richtet, hin zum Glück, auf welches freilich nicht nur die Liebe einen Anspruch erheben darf, wie uns in der letzten Strophe überraschend eröffnet wird. Der umarmende Reim der Schlußstrophe im Zusammenklange mit dem dreihebigen, daktylisch durchdrungenen Versmaße bedeutet uns unmittelbar, daß hier eine Weisheit besonderer Art zum Ausdrucke gelangt, eine solche nämlich, welche vom lyrischen Ich in des Lebens „Weh und Wonne“ selbst „erstritten“ und nicht epigonenhaft übernommen wurde. So steht diese letzte zugleich der allerersten Strophe entgegen, in welcher der fünfhebige Jambus männlicher Kadenz, begleitet vom biederen Paarreim, den zutiefst konventionellen Charakter verrät, der sich mit des „Weisen“ lehrhaftem Appell zu Maß, Mitte und Vernunft verbindet.
Noch viel der klugen Worte könnten wir über diesem meisterlichen Beispiele reifer Dichtkunst verlieren – doch wollen wir des Dichters Werk zuvörderst für sich selbst sprechen und, gewißermaßen jungfräulich, auf uns wirken lassen! Der Vollständigkeit halber sei dennoch angemerkt, daß so mancher Liebhaber und Kenner der Goethe’schen Dichtkunst den begnadeten Wechsel und die kühne Melange der poetischen Mittel, wie sie aus der vorliegenden Ballade uns entgegensprechen, auch im Lichte der weiland bestehenden Lebensumstände des Universalgenies zu erklären suchte. So ist bekannt, daß der kunstbeflissene Advokat von Goethe, welcher neben der terra poetica unter anderem auch die Welt der Natur entdeckte und erforschte, bereits 81 Jahre zählte, als er seine Verse zu Papier brachte, und, was kaum wundert, neben manch anderer Malesse jenes stolzen Alters auch recht erhebliche Schwankungen des Blutkreislaufs zu beklagen hatte, welche er durch die regelmäßige Einnahme nicht geringer Mengen an ebenso beruhigenden wie inspirierenden Trünken und Tinkturen zu lindern suchte. Davon – so jene Stimmen – sei sein Werk nicht unberührt geblieben.